KG Berlin, Beschluss vom 26.04.2016 - 1 AR 8/16

 

Zentrale Normen: Artt. 4, 21 EuErbVO, §§ 97, 343 FamFG

 

(Gewöhnlicher Aufenthalt bei Grenzpendlern)

 

 

Leitsatz des Verfassers:

Der gewöhnliche Aufenthalt eines Grenzpendlers bleibt im Herkunftsstaat, wenn dort der familiäre und soziale Schwerpunkt des Erblassers verblieb.

 

 

Problem:

Die Amtsgerichte Pankow-Weißensee und Wedding streiten über die Zuständigkeit in einem Nachlassfall mit Auslandsberührung. Der Erblasser hatte bis zum 11. Februar 2010 seinen Erstwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des Amtsgerichts Wedding. Ab diesem Zeitpunkt bezog er eine Wohnung in einer Lagerhalle in Polen, ohne sich dort aufzuhalten. Er arbeitete von Polen aus als selbstständiger Bauunternehmer und -berater. 

 

 

Aus den Gründen:

 

II.

Der Senat ist zur Entscheidung des zwischen den Amtsgerichten Pankow-Weißensee und Wedding bestehenden Streits über die örtliche Zuständigkeit berufen (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 FamFG).

Eine “Verweisung” des Verfahrens über die Entgegennahme der Ausschlagung an das Amtsgericht Wedding entbehrt einer gesetzlichen Grundlage.

 

1. Das Nachlassgericht beim Amtsgericht Pankow-Weißensee ist für die Entgegennahme der Ausschlagungserklärung der Tochter des Erblassers gem. § 31 IntErbRVG i. V. m. Art. 13 EuErbVO zuständig, weil diese als diejenige Person, die die Ausschlagung erklärt, in dessen Amtsbezirk ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Beim Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagung eines Erbes handelt es sich um eine Nachlasssache, die in die Zuständigkeit der Nachlassgerichte fällt. Es ist eines von mehreren Verfahren, die im Zusammenhang mit dem Anfall eines Nachlasses denkbar sind (vgl. die Aufstellung in § 342 FamFG). Nach Beendigung des Ausschlagungsverfahrens verbleibt die Akte bei diesem Gericht. Das Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagungserklärung ist jedoch erst mit der Aushändigung der Urschrift der Niederschrift der (Ausschlagungs-)Erklärung (nach der EuErbVO) bzw. der Weiterleitung der Erklärung an das zuständige Nachlassgericht (gem. § 1953 Abs. 3 S. 1 BGB) beendet. Ob dies geschehen ist, lässt sich dem in der Akte befindlichen Protokoll nicht entnehmen.

 

2. Soweit die erbausschlagende Tochter beim Amtsgericht Pankow-Weißensee schriftliche Unterlagen und Schlüssel aus dem Besitz des Verstorbenen übergeben hat, könnte eine besondere örtliche Zuständigkeit gem. § 344 Abs. 4 FamFG gegeben sein, wenn in diesem Gerichtsbezirk ein Bedürfnis zur Sicherung des Nachlasses besteht. Ein solches Bedürfnis kann mangels nachvollziehbarer Angaben jedoch im Hinblick auf die Art und Beschaffenheit der übergebenen Gegenständen nicht festgestellt werden.

 

3. Im Zusammenhang mit den weiteren Angaben der erbausschlagenden Tochter könnte die Durchführung weiterer Nachlassverfahren (Sicherung des Nachlasses, Ermittlung der Erben, Eröffnung von Verfügungen von Todes wegen etc.) erforderlich sein.

Wegweisend und vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse und Feststellungen zu diesem Nachlassfall weist der Senat auf Folgendes hin:

 

Das Amtsgericht Wedding könnte als örtlich zuständiges Nachlassgericht zu bestimmen sein. Seine Zuständigkeit folgt aus § 343 Abs. 2 FamFG i. d. Fassung vom 29.06.2015 i. V. m. Art. 4 EuErbVO. Die vorgenannte Neufassung von § 343 FamFG ist zusammen mit der europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO - Verordnung (EU) Nr. 650/2012 v. 04.07.2012) zum 17. August 2015 in Kraft getreten.

 

Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17. August 2015 ergibt sich nunmehr grundsätzlich aus Art. 4 ff EuErbVO i. V. m. § 97 FamFG (vgl. Zöller/Geimer, ZPO, 31. Aufl., RdNr. 45 zu Vorbem. zu §§ 97 -110; ders. aaO. RdNr. 5 zu § 105 FamFG). Die EuErbVO ist ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG hat (§ 97 FamFG). Durch die Anwendung der EuErbVO soll ein Gleichlauf des anwendbaren Erbrechts mit dem Recht des (Aufenthalts-)Mitgliedstaates des Erblassers im Todeszeitpunkt - abgesehen von den in der Verordnung vorgesehenen abweichenden Fällen der Rechtswahl und der Prorogation - hergestellt werden (vgl. Palandt-Weidlich, BGB, 75. Aufl., RdNr. 8 zu § 1960 i. V. m. RdNr. 6 - 8 zu § 2353 m. w. N.). Nach Art. 4 EuErbVO ist hinsichtlich der Gerichtszuständigkeit nicht zwischen streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit zu unterscheiden und an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers anzuknüpfen. Dieser könnte im vorliegenden grenzüberschreitenden Fall entweder in Polen oder in Deutschland gelegen haben. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt ist in diesem Zusammenhang entsprechend dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (vgl. hierzu im Einzelnen: Hess in Dutta/Herler, Die Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, S. 134 f m. w. N.) unter Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der persönlichen und familiären Eingliederung des Erblassers in den (Aufenthalts-)Mitgliedstaats zu bestimmen. Darüber hinaus sind für eine Auslegung die Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO heran zu ziehen (vgl. Geimer/Schütze/Wall, IRV, Stand: November 2015, RdNr. 6, 54 ff zu Art. 4 EuErbVO). 

 

Maßgebend bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist danach der “Mittelpunkt des Lebensinteresses des Erblassers”. Dies erfordert eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, insbesondere der Dauer und der Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers im Zweitstaat.

 

Vorliegend spricht eine weit überwiegende Gesamtheit von Umständen dafür, dass der Erblasser seinen Lebensmittelpunkt im dargestellten Sinne bis zu seinem Tod in Deutschland hatte. Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO führen konkrete Merkmale auf, nach denen der gewöhnliche Aufenthalt in solchen Fällen eines “Grenzpendlers” zu bestimmen ist. Bei sog. Grenzpendlern soll es beim Herkunftsstaat als gewöhnlicher Aufenthalt bleiben, wenn dort der familiäre und soziale Schwerpunkt des Erblassers verblieb. So ist es im vorliegenden Fall:

Die Familie des Erblassers, der erst im Jahr 2010 im Alter von 72 Jahren seinen Erstwohnsitz in Berlin-R... aufgegeben hatte, verblieb im Raum Berlin-B... . Dieser unterhielt die üblichen familiären Kontakte unverändert bei. In der Wohnung der Tochter in Berlin-Pankow behielt er einen Zweitwohnsitz lediglich für “Meldezwecke” bei, ohne sich dort jedoch tatsächlich aufzuhalten. Eine Integration am neuen Wohnort in G... (Polen) - unweit der deutsch-polnischen Grenze bei K... (Oder) - erfolgte kaum. Der Erblasser sprach kein polnisch. In das Dorf- und Vereinsleben war er nicht integriert. Persönliche Kontakte beschränkten sich auf Unterhaltungen mit und Anweisungen an ortsansässige Hilfskräfte und gelegentliche Gespräche mit dem deutschkundigen Ortspfarrer. Eine neue Familie gründete er in Polen nicht. Ärzte und Krankenhäuser suchte der Erblasser nur in Deutschland auf.

 

Der Erblasser erzielte sämtliche Einkünfte (Renten, Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit im Baugewerbe) in Deutschland. Konten unterhielt er weiterhin in Deutschland. Praktisch täglich überquerte er im Rahmen seiner Tätigkeit im Baugewerbe die Oder, um an seine Baustellen und zu seinen Kunden zu gelangen. Die Entscheidung für die Anmietung des Teils einer Lagerhalle in G... mit eingebauter Wohnung erfolgte ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen (deutlich günstigere Miete als in Deutschland) und Zweckmäßigkeitserwägungen (dennoch kurze Wege zu den Kunden in Berlin-B... ). Es bestand unverändert eine besonders enge und feste Bindung an den Heimatstaat des Erblassers (vgl. Geimer/Schütze/Wall aaO. RdNr. 54).

 

Die örtliche Zuständigkeit des Amtgerichts Wedding folgt aus § 47 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 4 IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO, § 343 Abs. 2 FamFG n. F., weil es sich um eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt. Weil der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. Art. 4 EuErbVO in Deutschland hatte, folgt die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Wedding gem. § 343 Abs. 2 FamFG n.F. aus dem, Umstand, dass der Erblasser in dessen Bezirk seinen letzten (tatsächlichen) Aufenthalt im Inland hatte. Auf die entsprechenden Vorschriften im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§§ 105, 343) verweist § 47 Nr. 2 IntErbRVG. Der Umstand, dass in § 343 Abs. 2 die Zuständigkeit des Gerichts des letzten gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland darin begründet ist, dass der Erblasser keinen gewöhnlichen Aufenthalt (mehr) in Deutschland hatte, und andererseits - wie dargelegt - von einem gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. Art. 4 EuErbVO des sog. “Grenzpendlers” in Deutschland auszugehen ist, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Art. 4 EuErbVO bestimmt die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Nachlassfall mit Auslandsbezug unter autonomer Auslegung des Begriffs des “gewöhnlichen Aufenthalts” im Todeszeitpunkt. Die örtliche Zuständigkeit regelt das nationale Recht (Art. 2 EuErbVO; vgl. Zöller/Geimer, aaO. RdNr. 12 zu Art. 1 EuErbVO). Dies ist in der Regelung gem. § 47 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 4 IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO, § 343 Abs. 2 FamFG n. F. wie dargelegt zum Inkrafttreten der EuErbVO geschehen. Mangels Feststellbarkeit eines einzigen Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers, der ständig den Raum Berlin-B... bis zu seinem Tode bereist hat, ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit die Anknüpfung an den letzten gewöhnlichen (d. h. “ständigen”) Aufenthalt im Bezirk des Amtsberichts Wedding sachgerecht (§ 343 Abs. 2 FamFG).