EuGH, Urteil vom 17.01.2019 - C-102/18

 

Zentrale Norm: Art. 65 Abs. 2 EuErbVO

 

(Benutzungspflicht des amtlichen Formblatts für die Beantragung eines Europäischen Nachlasszeugnisses)

 

Anmerkung:

Bei dem Antrag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist die Verwendung des Formblatts IV in Anhang 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 fakultativ.

 

Aus den Gründen:

21 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 und Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 dahin auszulegen sind, dass für den Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses im Sinne der erstgenannten Bestimmung die Verwendung des Formblatts IV obligatorisch oder fakultativ ist.

22 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass eine unionsrechtliche Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Kontexts der Bestimmung sowie des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23 Nach dem Wortlaut von Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 „kann“ der Antragsteller für die Vorlage eines Antrags auf Ausstellung eines Zeugnisses das nach dem Beratungsverfahren nach Art. 81 Abs. 2 dieser Verordnung erstellte Formblatt verwenden.

24 Außerdem muss, wie sich aus Art. 65 Abs. 3 der Verordnung Nr. 650/2012 ergibt, der Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses die in dieser Bestimmung aufgeführten Angaben enthalten, soweit sie dem Antragsteller bekannt sind und von der Ausstellungsbehörde zur Beschreibung des Sachverhalts, dessen Bestätigung der Antragsteller begehrt, benötigt werden, wobei dem Antrag alle einschlägigen Schriftstücke beizufügen sind, und zwar entweder in Urschrift oder in Form einer Abschrift, die die erforderlichen Voraussetzungen für ihre Beweiskraft erfüllt. Daraus folgt, dass zwar der Antragsteller die Angaben machen muss, die der Ausstellungsbehörde die Bestätigung des fraglichen Sachverhalts ermöglichen, doch ergibt sich aus Art. 65 der Verordnung Nr. 650/2012 nicht, dass er dabei das Formblatt IV verwenden muss.

25 Der Wortlaut von Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 ist somit bar jeder Mehrdeutigkeit, was den fakultativen Charakter der Verwendung des Formblatts IV betrifft. Im Übrigen gehen die vom vorlegenden Gericht angeführten Zweifel auf den Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 zurück, wonach „[f]ür den Antrag auf Ausstellung eines [Zeugnisses] gemäß Artikel 65 Absatz 2 der [Verordnung Nr. 650/2012] ... das Formblatt IV in Anhang 4 zu verwenden [ist]“. Dieser Bestimmung könnte dem vorlegenden Gericht zufolge zu entnehmen sein, dass die Verwendung dieses Formblatts obligatorisch ist.

26 Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 ist jedoch in Verbindung mit deren Anhang 4 zu lesen, auf den er verweist und in dem das Formblatt IV enthalten ist. In dem Feld „Mitteilung an den Antragsteller“ am Anfang dieses Formblatts wird aber eindeutig klargestellt, dass das Formblatt IV fakultativ ist. Somit kommt der Wendung „Formblatt“, das „zu verwenden“ ist, in Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 keine Aussagekraft über den obligatorischen oder fakultativen Charakter der Verwendung des Formblatts IV zu, sondern nur Hinweisfunktion dahin, dass für den Fall, dass der Antragsteller seinen Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses mittels eines Formblatts stellen wollen sollte, das Formblatt IV das geeignete Formblatt wäre, das zu verwenden ist.

27 Außerdem ist festzustellen, dass nach dem Art. 65 der Verordnung Nr. 650/2012 entsprechenden Art. 38 des dieser Verordnung zugrunde liegenden Vorschlags der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (KOM[2009] 154 endgültig) vorgesehen war, dass der Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses mittels eines Formblatts nach dem Muster in Anhang I dieses Vorschlags gestellt werden musste. Die Änderung der Formulierung dieses Art. 38 in Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 lässt erkennen, dass trotz der in einem frühen Stadium der Legislativtätigkeit bestehenden Absicht der Kommission, die obligatorische Verwendung eines Formblatts ins Auge zu fassen, diese anfängliche Absicht vom Unionsgesetzgeber nicht weiterverfolgt wurde. Folglich bestätigt auch die Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 650/2012, dass dem Wortlaut ihres Art. 65 Abs. 2 zu entnehmen ist, dass die Verwendung des Formblatts IV zur Beantragung eines Zeugnisses fakultativ ist.

28 Demnach ergibt sich aus der wörtlichen Auslegung von Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 in Verbindung mit Anhang 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014, dass die Verwendung des Formblatts IV für einen Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses fakultativ ist.

29 Bestätigung findet diese Auslegung außerdem in einer Analyse des Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmung einfügt.

30 Art. 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 stellt nämlich für die Ausstellungsbehörde die Pflicht auf, für die Ausstellung des Zeugnisses das in Anhang 5 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 vorgesehene Formblatt V zu verwenden. In dem unterschiedlichen Wortlaut von Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012, der den Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses betrifft, und Art. 67 Abs. 1 dieser Verordnung betreffend die Ausstellung des Zeugnisses kommt zum Ausdruck, dass der Unionsgesetzgeber für den Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses die Verwendung des Formblatts IV nicht vorschreiben wollte.

31 Darüber hinaus ist festzustellen, dass sich in den Anhängen 1 bis 3 und 5 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 kein Hinweis auf die fakultative Verwendung der in diesen Anhängen enthaltenen Formblätter findet. Allein das Formblatt IV weist in dem Feld „Mitteilung an den Antragsteller“ auf den fakultativen Charakter dieses Formblatts hin. Dieser Hinweis findet sich im Übrigen genauso auch in anderen Sprachfassungen des fraglichen Anhangs wie der spanischen, der englischen, der französischen, der italienischen und der rumänischen.

32 Die vorstehende Feststellung bestätigt den Willen des Unionsgesetzgebers, eine fakultative Verwendung des Formblatts IV vorzusehen.

33 Diese Auslegung läuft nicht der allgemeinen Zielsetzung der Verordnung Nr. 650/2012 zuwider, die, wie sich aus deren 59. Erwägungsgrund ergibt, in der gegenseitigen Anerkennung der in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen in Erbsachen mit grenzüberschreitendem Bezug besteht.

34 Auch wenn nämlich in dem Feld „Mitteilung an den Antragsteller“ des Formblatts IV erläutert wird, dass die Verwendung dieses Formblatts durch den Antragsteller die Zusammenstellung der für die Ausstellung eines Zeugnisses erforderlichen Angaben erleichtern soll, kann mit dem nach Art. 65 der Verordnung Nr. 650/2012 gestellten Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses das Ziel dieser Verordnung von den Mitgliedstaaten gleichwohl im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip ausreichend verwirklicht werden, ohne dass es erforderlich wäre, die Verwendung des Formblatts IV zur Verpflichtung zu erheben.

35 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Ausstellungsbehörde nach den Art. 66 und 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 das Zeugnis ausstellt, nachdem sie die vom Antragsteller gemäß Art. 65 Abs. 3 dieser Verordnung übermittelten Angaben überprüft und gegebenenfalls Nachforschungen gemäß Art. 66 der Verordnung angestellt hat.

36 Nach alledem sind Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 und Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 dahin auszulegen, dass für den Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses im Sinne der erstgenannten Bestimmung die Verwendung des Formblatts IV fakultativ ist.

 

Kosten

37 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses und Art. 1 Abs. 4 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1329/2014 der Kommission vom 9. Dezember 2014 zur Festlegung der Formblätter nach Maßgabe der Verordnung Nr. 650/2012 sind dahin auszulegen, dass für den Antrag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses im Sinne der erstgenannten Bestimmung die Verwendung des Formblatts IV in Anhang 4 der Durchführungsverordnung Nr. 1329/2014 fakultativ ist.