EuGH, Beschluss v. 14.06.2017 - C67/17 (Iliev)

 

Zentrale Normen: Art. 1 Abs. 2 lit. a Brüssel Ia-Verordnung

(Auslegung des Begriffs des „ehelichen Güterstands“)

 

Leitsatz: 

Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsstreit wie der im Ausgangsfall, der – nach Ausspruch der Scheidung – die Teilung einer beweglichen Sache betrifft, die während der Ehe von Ehegatten, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, ihren Wohnsitz jedoch in einem anderen Mitgliedstaat haben, erworben wurde, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung, sondern unter die ehelichen Güterstände und damit unter die Ausnahmevorschrift von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a fällt.

 

 

Problem:

Herr Iliev, ein bulgarischer Staatsbürger, und Frau Ilieva, eine italienische und bulgarische Staatsbürgerin, heirateten am 1. Juni 2007 in Choumen (Bulgarien). Am 2. Juli 2015 wurde die Ehe durch Entscheidung des Rayonen sad Choumen (Kreisgericht Choumen, Bulgarien) aufgelöst. Im Anschluss an die durch dieses Gericht ausgesprochene Scheidung klagte Herr Iliev vordem vorlegenden Gericht auf Teilung eines Kraftfahrzeugs, das von Frau Ilieva gekauft und im November 2009 auf ihren Namen zugelassen worden war. Herr Iliev macht geltend, das Fahrzeug sei während der Ehe mit gemeinsamen Mitteln gekauft worden und gehöre nach den Art. 21 und 28 des Familiengesetzbuchs beiden Parteien zu gleichen Teilen, auch wenn es in Italien nur auf Frau Ilieva zugelassen gewesen sei. Es stellt sich also die Frage ob der Rechtsstreit in den Anwendungsbereich dieser Verordnung oder unter die ehelichen Güterstände und damit unter die Ausnahmevorschrift von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a fällt.

 

 

Kurzfassung der Entscheidung:

Laut EuGH handelte es sich hierbei um einen act éclairé, womit die Entscheidung im Beschluss ergehen konnte. Der Begriff des „ehelichen Güterstands“ umfasst nicht nur die in einigen nationalen Rechtsordnungen besonders und ausschließlich für das Rechtsverhältnis der Ehe vorgesehenen Güterstände, sondern ebenso alle vermögensrechtlichen Beziehungen, die sich unmittelbar aus der Ehe oder ihrer Auflösung ergeben (Urteil vom 27. März 1979, de Cavel, 143/78, EU:C:1979:83, Rn. 7). Daraus folgt, dass ein Rechtsstreit zwischen geschiedenen Ehegatten über die Teilung einer während der Ehe erworbenen beweglichen Sache, der vermögensrechtliche Rechtsverhältnisse zwischen diesen Personen betrifft, die sich unmittelbar aus der Auflösung der Ehe ergeben, nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012, sondern in die in der vorhergehenden Randnummer erwähnte zweite Gruppe fällt.

 

 

Aus den Gründen:

 

20      Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

 

21     Diese Bestimmung ist hier anzuwenden.

 

22   Mit seinen drei Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Rechtsstreit wie der im Ausgangsfall, der – nach Ausspruch der Scheidung – die Teilung einer beweglichen Sache betrifft, die während der Ehe von Ehegatten, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, ihren Wohnsitz jedoch in einem anderen Mitgliedstaat haben, erworben wurde, in den Anwendungsbereich dieser Verordnung oder unter die ehelichen Güterstände und damit unter die Ausnahmevorschrift von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a fällt.

 

23  Da die Verordnung Nr. 1215/2012 nunmehr im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark an die Stelle des Übereinkommens von Brüssel getreten ist, gilt dessen Auslegung durch den Gerichtshof auch für diese Verordnung, soweit deren Vorschriften und die des Brüsseler Übereinkommens als „gleichbedeutend“ angesehen werden können. Dem 34. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 ist zu entnehmen, dass bei der Auslegung die Kontinuität zwischen dem Brüsseler Übereinkommen und dieser Verordnung zu wahren ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Realchemie Nederland, C‑406/09, EU:C:2011:668, Rn. 38).

 

24     Zum Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012 ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung mit Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens übereinstimmt und dass sich beide Vorschriften dem Wortlaut nach entsprechen.

 

25    Folglich ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens Bezug zu nehmen, im Besonderen auf das Urteil vom 27. März 1979, de Cavel (143/78, EU:C:1979:83).

 

26   In diesem Urteil hat der Gerichtshof geprüft, ob ein Rechtsstreit über eine vermögenssichernde Maßnahme in einem Ehescheidungsverfahren unter das Brüsseler Übereinkommen fällt, weil es sich dabei um eine vermögensrechtliche Maßnahme handelt.

 

27      Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass wegen der Besonderheit bestimmter Rechtsgebiete, zu denen der Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände und das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts gehören, die Rechtsstreitigkeiten aus diesen Gebieten vom Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgeschlossen sind (Urteil vom 27. März 1979, de Cavel, 143/78, EU:C:1979:83, Rn. 6).

 

28    Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Begriff der „ehelichen Güterstände“ in Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens nicht nur die in einigen nationalen Rechtsordnungen besonders und ausschließlich für das Rechtsverhältnis der Ehe vorgesehenen Güterstände umfasst, sondern ebenso alle vermögensrechtlichen Beziehungen, die sich unmittelbar aus der Ehe oder ihrer Auflösung ergeben (Urteil vom 27. März 1979, de Cavel, 143/78, EU:C:1979:83, Rn. 7).

 

29       Der Gerichtshof hat daraus den Schluss gezogen, dass Auseinandersetzungen über das Vermögen der Ehegatten während eines Scheidungsverfahrens je nach Lage des Falles folgende Bereiche betreffen oder eng mit ihnen zusammenhängen können: erste Gruppe: Fragen des Personenstands; zweite Gruppe: vermögensrechtliche Beziehungen zwischen den Ehegatten, die sich unmittelbar aus der Ehe oder ihrer Auflösung ergeben; dritte Gruppe: vermögensrechtliche Beziehungen, die zwischen den Ehegatten bestehen, jedoch keinen Zusammenhang mit der Ehe aufweisen. Allein Rechtsstreitigkeiten der letzten Gruppe fallen in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens, während solche im Zusammenhang mit den beiden erstgenannten Gruppen davon auszuschließen sind (Urteil vom 27. März 1979, de Cavel, 143/78, EU:C:1979:83, Rn. 7).

 

30    Daraus folgt, dass ein Rechtsstreit zwischen geschiedenen Ehegatten über die Teilung einer während der Ehe erworbenen beweglichen Sache, der vermögensrechtliche Rechtsverhältnisse zwischen diesen Personen betrifft, die sich unmittelbar aus der Auflösung der Ehe ergeben, nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012, sondern in die in der vorhergehenden Randnummer erwähnte zweite Gruppe fällt.

 

31  Zu ergänzen ist, dass die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) zwar nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. a für Zivilsachen in Bezug auf die Ehescheidung gilt, nach ihrem achten Erwägungsgrund allerdings nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie die Scheidungsgründe, das Ehegüterrecht oder sonstige mögliche Nebenaspekte.

 

32      Folglich ist auf die gestellten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Rechtsstreit wie der im Ausgangsfall, der – nach Ausspruch der Scheidung – die Teilung einer beweglichen Sache betrifft, die während der Ehe von Ehegatten, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, ihren Wohnsitz jedoch in einem anderen Mitgliedstaat haben, erworben wurde, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung, sondern unter die ehelichen Güterstände und damit unter die Ausnahmevorschrift von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a fällt.