EuGH vom 1.3.2018 - Rs. C-558/16 (Mahnkopf)

 

 

Zentrale Normen: Art. 1 Abs. 1, Art. 67 Abs. 1 und Art. 68 lit. l EuErbVO, § 1371 I BGB

 

(Qualifikation der pauschalierten Erhöhung des gesetzlichen Erbteils des überlebenden Ehegatten)

 

 

Leitsatz:

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach beim Tod eines Ehegatten ein pauschaler Zugewinnausgleich durch Erhöhung des Erbteils des überlebenden Ehegatten vorzunehmen ist, in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.

 

 

Problem:

Der BGH hatte sich in einem Urteil aus dem Jahr 2015 vor Inkrafttreten der EuErbVO zu dem jahrzehntelangen Streit um die Qualifikation von § 1371 Abs. 1 BGB für eine güterrechtliche Qualifikation ausgesprochen. Das Verfahren vor dem EuGH geht zurück auf ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV des Kammergerichts Berlin. In dem Verfahren sollte ein Nachlasszeugnis ausgestellt werden. Neben der überlebenden Ehegattin existierte noch ein gemeinsames Kind. Das zuständige Gericht argumentierte § 1371 I BGB, aufgrund derer das weitere Viertel zugesprochen worden sei, gehöre zum ehelichen Güterrecht und nicht zum Erbrecht. Sie falle daher nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung. 

 

Bewertung:

Der EuGH entschied, dass das Viertel aus § 1371 I BGB erbrechtlich zu qualifizieren sei. Das hat zur Folge, dass eine Erhöhung des gesetzlichen Erbteils des Ehegatten nach § 1371 Abs. 1 BGB um 1/4 nur noch bei deutschem Erbstatut in Betracht kommt. 


Das heißt jedoch nicht, dass in jedem Fall mit deutschem Erbstatut immer eine pauschale Erhöhung des Ehegattenerbteils nach §§ 1931 Abs. 3, 1371 Abs. 1 BGB zu erfolgen hat. § 1371 I BGB setzt voraus, dass die Ehegatten im gesetzlichen Güterstand gelebt haben.

Nunmehr stellt sich also die Frage, ob "(gesetzlicher") Güterstand" i.S.v. § 1371 I BGB auch ein solcher ausländischen Rechts sein kann. Dies kommt darauf an, ob der ausländische Güterstand Vorschriften enthält, die bei funktional-systematischer Betrachtung mit den deutschen Vorschriften vergleichbar sind.

Diese Frage dürfte wohl zu verneinen sein. Keine andere Rechtsordnung sieht einen pauschalen Zugewinnausgleich im Todesfall vor. Griffe man auf § 1371 I BGB zurück, käme es sonst zu einer Überkompensation.

Erlangt der Erbe eine Erhöhung aus § 1371 I BGB und kann dann zusätzlich nach ausländischem Güterstatut den dort vorgesehen Ausgleich erhalten, würde er eine doppelte Privilegierung aus dem Güterrecht erhalten, obwohl § 1371 I BGB die pauschale Erhöhung nur vorsieht, um einen rechnerischen Ausgleich zu vermeiden.

 

 

Aus den Gründen:

 

31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach beim Tod eines Ehegatten ein pauschaler Zugewinnausgleich durch Erhöhung des Erbteils des überlebenden Ehegatten vorzunehmen ist, in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

 

32 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (Urteil vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung), die unter Berücksichtigung nicht nur ihres Wortlauts, sondern auch des Kontexts der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteil vom 18. Mai 2017, Hummel Holding, C‑617/15, EU:C:2017:390, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

33 Die Verordnung Nr. 650/2012 ist gemäß dem Wortlaut ihres Art. 1 Abs. 1 auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden. In Art. 1 Abs. 2 der Verordnung werden abschließend die Bereiche aufgezählt, die von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen sind; dazu gehören gemäß Buchst. d dieser Vorschrift u. a. die „Fragen des ehelichen Güterrechts“. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung stellt klar, dass die Rechtsnachfolge von Todes wegen „jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge“, umfasst.

 

34 Außerdem geht aus dem neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 hervor, dass sich ihr Anwendungsbereich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken sollte.

35 Gemäß ihrem siebten Erwägungsgrund soll die Verordnung Nr. 650/2012 die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug ausräumen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. Insbesondere müssen im europäischen Rechtsraum die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger effektiv gewahrt werden.

 

36 Hierfür sieht die Verordnung Nr. 650/2012 die Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses vor, das es jedem Erben, Vermächtnisnehmer oder in diesem Zeugnis genannten Rechtsnachfolger ermöglichen muss, in einem anderen Mitgliedstaat seine Rechtsstellung und seine Erbansprüche nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2017, Kubicka, C‑218/16, EU:C:2017:755, Rn. 59).

 

37 Zum Kontext der in Rede stehenden Vorschrift ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 650/2012 gemäß ihren Erwägungsgründen 11 und 12 nicht für Bereiche des Zivilrechts gelten sollte, die nicht die Rechtsnachfolge von Todes wegen betreffen, und insbesondere nicht für Fragen des ehelichen Güterrechts, einschließlich der in einigen Rechtsordnungen vorkommenden Eheverträge, soweit diese keine erbrechtlichen Fragen regeln.

 

38 Vorliegend geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass nach § 1371 Abs. 1 BGB im Fall einer Beendigung der Zugewinngemeinschaft der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten beim Zugewinnausgleich um ein Viertel der Erbschaft erhöht wird.

39 Die deutsche Regierung hat in ihren Erklärungen darauf hingewiesen, dass diese die Auseinandersetzung einer ehelichen Gütergemeinschaft betreffende Vorschrift des nationalen Rechts ausschließlich bei Auflösung der Ehe durch den Tod eines Ehegatten anzuwenden ist. So solle eine pauschale güterrechtliche Auseinandersetzung des während der Ehe erwirtschafteten Vermögens dadurch erfolgen, dass der sich aus der Beendigung der Zugewinngemeinschaft durch den Tod eines Ehegatten ergebende Nachteil ausgeglichen wird, ohne dass es einer exakten Feststellung über Bestand und Wert des Anfangs- und des Endvermögens bedürfe.

 

40 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 78 und 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, betrifft § 1371 Abs. 1 BGB gemäß den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen nicht die Aufteilung der Vermögenswerte zwischen den Ehegatten, sondern die Rechte des überlebenden Ehegatten an den Gegenständen, die schon zum Nachlassvermögen gezählt werden. Unter diesen Umständen scheint der Hauptzweck der Bestimmung nicht in der Aufteilung des Vermögens oder in der Beendigung des ehelichen Güterstands, sondern vielmehr in der Bestimmung des dem überlebenden Ehegatten im Verhältnis zu den übrigen Erben zufallenden Erbteils zu liegen. Eine solche Vorschrift betrifft daher in erster Linie die Rechtsnachfolge nach dem Tod eines Ehegatten und nicht das eheliche Güterrecht. Folglich bezieht sich eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende auf Erbsachen im Sinne der Verordnung Nr. 650/2012.

 

41 Im Übrigen steht auch der Anwendungsbereich der Verordnung 2016/1103 einer solchen Auslegung nicht entgegen. Obwohl diese Verordnung erlassen wurde, um – wie aus ihrem 18. Erwägungsgrund hervorgeht – alle zivilrechtlichen Aspekte der ehelichen Güterstände abzudecken, die sowohl die Verwaltung des Vermögens der Ehegatten im Alltag betreffen als auch die güterrechtliche Auseinandersetzung, insbesondere infolge der Trennung des Paares oder des Todes eines Ehegatten, ist „die Rechtsnachfolge nach dem Tod eines Ehegatten“ gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 Buchst. d ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen.

42 Schließlich können, wie der Generalanwalt in Nr. 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wenn der dem überlebenden Ehegatten gemäß einer nationalen Bestimmung wie § 1371 Abs. 1 BGB zufallende Anteil dem Erbrecht zugeordnet wird, Angaben zu diesem Anteil in das Europäische Nachlasszeugnis mit allen in Art. 69 der Verordnung Nr. 650/2012 genannten Wirkungen aufgenommen werden. Gemäß Art. 69 Abs. 1 dieser Verordnung entfaltet das Europäische Nachlasszeugnis Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. Nach Art. 69 Abs. 2 wird vermutet, dass die Person, die im Zeugnis als Vermächtnisnehmer genannt ist, die in dem Zeugnis genannte Rechtsstellung und die in dem Zeugnis aufgeführten Rechte hat und dass diese Rechte keinen anderen als den im Zeugnis aufgeführten Bedingungen und/oder Beschränkungen unterliegen (Urteil vom 12. Oktober 2017, Kubicka, C‑218/16, EU:C:2017:755, Rn. 60)

 

43 Somit ist festzustellen, dass die Erreichung der mit dem Europäischen Nachlasszeugnis verfolgten Ziele in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erheblich beeinträchtigt würde, wenn in diesem Zeugnis nicht alle Informationen betreffend die Ansprüche des überlebenden Ehegatten am Nachlass enthalten wären.

44 Nach alldem ist die erste Frage dahin zu beantworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach beim Tod eines Ehegatten ein pauschaler Zugewinnausgleich durch Erhöhung des Erbteils des überlebenden Ehegatten vorzunehmen ist, in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.

Zur zweiten und zur dritten Frage

45 Angesichts der Beantwortung der ersten Frage erübrigt sich eine Antwort auf die zweite und die dritte Frage.

 

Kosten

46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.